Leseprobe
Editorial
Man muss ja nicht gleich den armen Heinrich Heine bemühen und sein »Denk‘ ich an Deutschland in der Nacht/ Dann bin ich um den Schlaf gebracht …« wenn man über Deutschlands Verfassung in ihrem 70. Jahr nachdenkt. Aber Feierlaune will zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes auf keinen Fall aufkommen. Zumindest nicht bei allen arbeitenden Menschen, die an sozialer (!) Sicherheit, Frieden und intakter Umwelt interessiert sind. Denn die Verfassung unserer Verfassung (und ihrer Organe) kann aus ihrer Sicht als prekär bezeichnet werden. Nicht nur bezüglich der ganz »großen« Themen, von denen in unseren Schwerpunkt-Beiträgen die Rede ist. Auch in scheinbaren »Kleinigkeiten« spiegelt sich das Große.
Beispiel 1: Im -angedrohten oder vollzogenen- Entzug der Gemeinnützigkeit für die »Umwelthilfe«, für »attac« und für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschisten in NRW- kann man durchaus einen Generalangriff auf alle sehen, die bei ihrem Engagement für wirklich gemeinnützige politische Ziele, den Mächtigen mit Zivilcourage mächtig auf die Füße treten. Und im Fall der VVN/ BdA wird einmal mehr deutlich, wie weit man in deutschen Amtsstuben vom »antifaschistische Auftrag« des Grundgesetzes entfernt ist.
Beispiel 2: In der Logik des jüngsten Gerichtsurteils, wonach Kosten für Polizei-Einsätze bei »Risiko-Spielen« in deutschen Fußballstadien auf die Vereine abgewälzt werden können, liegt durchaus, zukünftig auch demonstrierende Demokraten zur Kasse zu bitten, denn die scheinen zum generellen Risiko für die »marktkonforme« Demokratie zu werden. Wie man auch an den Sanktionsandrohungen für all die SchülerInnen sieht, die »Fridays for Future« demonstrieren.
Und dann ist da als drittes Beispiel noch die Bürgermeisterin meiner Heimatstadt Dülmen, SPD-Mitglied (!) und ehemals Lehrerin, die dem örtlichen DGB die Nutzung städtischer Räumlichkeiten für seine 1. Mai-Feier verweigert. Der DGB verstoße -vor dem Hintergrund der Europa-Wahlen am 26. Mai – mit seinem 1. Mai-Empfang unter dem Motto »Europa. Jetzt aber richtig« gegen das Neutralitätsgebot (sic!). Auch das ist keine Provinz-Petitesse, sondern »borniert« und hochgradig »geschichtsvergessen« – wie es in einem Solidaritätsschreiben der DKP-Ruhr-Westfalen mit dem DGB-Dülmen heißt, und in dem an zentrale Lehren aus Krieg und Faschismus erinnert wird, wozu auch die Gründung des DGB als Einheitsgewerkschaft vor ebenfalls 70 Jahren gehört. Von »Neutralitätsgebot« war damals nun wirklich keine Rede.
Alle Autoren unserer Schwerpunktbeiträge betrachten die beiden (!) deutschen Verfassungen von 1949, also die der BRD und der DDR, sowie die des wiedervereinigten bzw. wieder bereinigten Deutschland mit großer Nachdenklichkeit, aber keineswegs „neutral“, sondern völlig einseitig vom Standpunkt der Menschen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen. Insofern betrachten wir diese Ausgabe auch als ein vorgezogenes, denk-anstößiges Geburtstagsschenk für GewerkschaftskollegInnen, die heutzutage wieder stärker über Wurzeln und neue Her-ausforderungen der Einheitsgewerkschaft nachdenken. Lothar Geisler
Inhalt
Marxistische Blätter 3_2019
Aktuelles
Wir wollen wohnen – gemeinsam gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn! Klaus Stein. Alternativen und die Eigentumsfrage im Wohnungsbau Hermann Werle, Joachim Maiworm . Ums Schuleschwänzen geht es nicht Studie der Universität Konstanz #scientists for future . Der Griff auf Venezuela Interview mit US-Ökonom Michael Hudson. Xis Europa-Besuch und kleinkarierte Reaktionen Georg Polikeit.
Thema: Die Verteidigung einer Ruine – Nachdenkliches zu 70 Jahren Grundgesetz
Gedenken oder Überdenken? Rolf Geffken . Arbeitsrechte – Blindstelle im Grundgesetz Werner Rügemer . Dem »DDR-Sozialstaat« folgte die soziale Diskriminierung Ekkehard Lieberam. Stasi-»Forschung« exemplarisch: Hochstapeln und denunzieren Ludwig Elm. Freiheit stirbt mit Sicherheit Weiterhin »Nein zum neuen Polizeigesetz in NRW!« Tim Engels. »Eine Waffe der Demokraten« Stimmen von antifaschistischen Zeitzeugen und -genossen 1974 Raimund Ernst. Verteidigung einer Ruine? Bemerkungen zur Dialektik und Relevanz des Grundgesetzes Klaus Wagener. »Kampfauftrag, statt Feiertag« Kommunisten und das Grundgesetz Patrik Köbele, Parteivorsitzender der DKP.
Dokumentation: Antrag der KPD-Fraktion im Parlamentarischen Rat 6. Mai 1949 (Drucksache 759) . Die KPD zum Asylrecht 1949 Aus der Rede des KPD-Abgeordneten Heinz Renner (1892–1964) im Parlamentarischen Rat 1949 zum Asylrecht.
Positionen: Zu Gerd Dietrichs Kulturgeschichte der DDR in drei Bänden Rüdiger Bernhardt. Zu Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution Wolfgang Jantzen. Die »Deutschland AG« hat sich aufgelöst Neue Herausforderungen für erfolgreiche Kämpfe! Uwe Fritsch. Über Sexismus-Bashing, Sexualität und Pornographie Diether Dehm.
Rezensionen: Nicole Mayer-Ahuja u.a.: Karl Marx – Ratgeber der Gewerkschaften? (Achim Bigus) . Karl Czasny: Kritik des Arbeitswerts – Zum zentralen Begriff der ökonomischen Theorie von Karl Marx (Lucas Zeise) . Hans-Jürgen Bandelt: Die Kultur-Linke und ihr Problem mit Grenzen. Solidarität und Sammlung statt Ausgrenzung (Andreas Wehr). Helmut Knolle: Patriarchat und Bevölkerungsgeschichte (Helga E. Hörz). Marx-Engels-Stiftung u.a. (Hrsg.): Novemberrevolution 1918/19, Ereignis – Deutung – Bedeutung (Beate Landefeld) . Bernd Langer: Deutschland 1918/19. Die Flamme der Revolution (Rainer Venzke). Robert Gerwarth: Die größte aller Revolutionen. November 2018 und der Aufbruch in eine neue Zeit (Rainer Venzke). Eckart Conze: Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt (Rainer Venzke). Klaus Kukuk: Michail Gorbatschow und Zdenek Mlynar. Gespräche in Wien, Moskau und Prag (Anton Latzo). Lucas Zeise, Finanzkapital (Manfred Sohn).